Gedichte und Romane
Die Sehnsucht der Seerose nach der Libelle Thelem Verlag 2018
Der Engelfotograf Folio Verlag 2016
Landschaft aus Menschen und Tagen Hanser Verlag 2010
La Madonna di Tindari alla Rognetta Associazione Culturale La Luna 2010
Weil Rosa die Weberin Thelem Verlag 2005
Sich die Fremde nehmen Neuer Malik Verlag 1992
Sehnsucht nach Sprache Neuer Malik Verlag 1987
Mein fremder Alltag Neuer Malik Verlag 1984
Ich in Dresden Thelem Verlag 2003
In Sprachen leben Thelem Verlag 2003
Als Dichter in Deutschland Thelem Verlag 2011
Es gab einmal die Alpen Thelem Verlag 2005
Akzente Hanser Verlag 2005

Gino Chiellino schreibt deutschsprachige Gedichte seit mehr als vierzig Jahren. Mit dem vorliegenden Band erhält der Liebhaber der Poesie die Möglichkeit, den lyrischen Werdegang des Dichters von den ersten Versuchen bis zum heutigen Stand zu verfolgen. Dabei wird er feststellen können, mit welchem analysierenden Engagement Chiellino sich seinem Hauptthema, dem Leben in der Fremde, nach wie vor widmet.
Ebenso intensiv hat er Gedicht um Gedicht die deutsche Sprache für fremde Empfindungen, Unsicherheiten, Wünsche, Ansprüche und Lebensprojekte sensibilisiert. Chiellinos kreativer und aufklärerischer Umgang mit der deutschen Sprache hat einer beachtlichen Anzahl seiner Gedichte zur Aufnahme als „Klassiker“ in Schulbücher verholfen.
Gino Chiellino
Die Sehnsucht der Seerose nach der Libelle
Gedichte 1977-2013

DER AUTOR
Gino Chiellino, geboren 1946 in Kalabrien, Studium in Rom, seit 1970 in Deutschland, lebt in Augsburg.
Mitbegrunder der interkulturellen Literatur in deutscher Sprache. Lyriker, Essayist, Übersetzer. Adelbert-von-Chamisso-Preis 1987.
Poetikdozentur an der Sächsischen Akademie der Künste, Dresden, 2001.
Fünf Lyrikbände, zuletzt „Landschaften aus Menschen und Tagen“ (Hanser 2010).
www.chiellino.eu
Gino Chiellino
Der Engelfotograf
Eine Kindheit in Kalabrien
Roman
In betörenden Bildern erzählt Gino Chiellino von der Befreiung aus kargen Verhältnissen und traumatisierenden Erfahrungen.
Rusco wächst in den 1950er-Jahren in Kalabrien auf. Seine Kindheit endet, als seine Eltern ihn in ein katholisches Internat nach Norden schicken.
Schon sieht er sich als Missionar in Afrika wirken.
Doch sein Gott, auf den er voll Zuversicht setzt, schützt ihn nicht vor traumatischen Erfahrungen. Und so sagt er sich von Gott ebenso los wie von seinen Eltern und nimmt den stillen Kampf auf, um zwischen der Sprache der Kindheit und dem Verstummen im Kloster eine neue Sprache für sein Leben zu finden. Er lernt, sich auf sich selbst zu verlassen, und schlägt seinen eigenen Weg ein - in ein selbstbestimmtes Leben jenseits von Elternhaus und Klosterschule.
„Farben und Formen, Licht, Geräusche und Düfte des Südens ziehen sich durch die Situationsbeschreibungen des ruhelos Getriebenen.“
Dorothea von Törne, Die Welt
Hier können Sie das 1. Kapitel des Romans gelesen von Johannes Silberschneider hören.
Das offene Buch: Gino Chiellino - Eine Kindheit in Kalabrien - Podcast von Bayern 2 (05.02.2017)
BAND 15 DER EDITION LYRIK KABINETT
Herausgegeben von Ursula Haeusgen,Michael krüger und Raoul Schrott
Gino Chiellino
LANDSCHAFT AUS MENSCHEN
UND TAGEN
Gedichte
Mit einer Selbstbetrachtung des Autors
Canti per M / Lieder für einen Buchstaben
1992-1998
Landschaft und Gedächtnis
Diese Landschaft der aufgehenden Hügel
trägt in sich kein Bild meiner Nächte.
In ihr kein Gedächtnis der verlebten Tage.
Sie lässt sanft den Blick rasten
und befragt ihn nicht nach dem Weg.
Einzig durch die Stimme der Geliebten
weiß ich mich hier.
Bei den Honiglilien
Die brennende Mauer um den Leuchtturm
gibt die Einsamkeit der Sonne wieder
an diesem Augusttag am ionischen Ufer.
Mit harziger Stimme ruft der Abend
Möwen und Fischer zurück.
Salzige Stille schärft die Sinne.
Schiffe durchschneiden die Nacht,
gegen Orient flammt das weite Blau über der Bucht auf,
satt und hungrig verweilen wir bei den Honiglilien.
VITANOVA 2005-2009
Kein Shylock
Ich war kein Shylock,
unvernünftig und klug lebte ich unter Säcken,
randvoll und prall mit Leere gefüllt.
Mir gehörte und gehorchte kein Pfund Fleisch,
kein Pfund Erde, die Luft,
die ich zum Leben brauchte, war verpestet.
Aus Shylock kann kein Bruder werden,
unvernünftig und klug schlug ich mich
gegen mich selbst und durch.
Nun lebe ich vom täglichen Blick aufs Meer,
vor Hilferufen schützen mich die Dünen
und bei Landwind sehe ich ihn mir zuwinken,
unvernünftig und klug - wie damals in Venedig.
Die Schreinerwerkstatt
Im Schatten meiner Gedanken kehre ich täglich
zu der Werkstatt des Meisters und ihren Düften zurück.
Im Winter roch es nach aufflammenden Sägespänen und Tod.
Gegen den süßlichen Staub des Sommers holte der Lehrling
Wasser im Garten des Nachbarn.
Regen und Wind brachten im Frühjahr das Licht zu den Werkzeugen zurück.
Aus warmem Kastanienholz entwarfen sie Betten und Schränke
für die Nächte der Liebenden.
Im Herbst aßen sich Meister und Lehrling bei den Bauern satt.
Sie glaubten an ein Leben aus Geometrie.
Seit ungezählten Jahreszeiten bewachen
Holunder und Weißdorn das Haus des Meisters.
Wenn der Augustmond in die Werkstatt eindringt,
teilen sich Lehrling und Werkzeuge die Sehnsucht nach dem Meister.
Von Messer, Brille, Schirm und Ring
Es beginnt an einem Morgen, als die Klinge
eines Brotmessers auf der Fensterbank
ihm die Sonne in die Augen schießt.
Geblendet beginnt er Messer, Brille, Schirm und Ring zu verstehen.
In stiller Geduld haben sie ihm beigebracht, bei sich zu sein.
Beim Schneiden des Morgenbrots gerät er
in eine Körperhaltung, die Zuversicht ausstrahlt.
Mit der Brille in der Hand liest er jeden
Brief, bevor er ihn öffnet,
um von seinem Inhalt nicht überrascht zu sein.
Er greift nach dem Schirm, aber nicht
gegen den Regen, durch ihn wird er
um Jahre jünger, bevor er das Haus verlässt.
Den Ring zieht er vor jeder Begegnung an.
Seine Buchstaben in Silber und das Halbgesicht in Gold
bringen ihn in den Fluss des Lebens zurück.
Messer, Brille, Schirm und Ring
werden von ihm erzählen,
wenn ihm die Worte ausgegangen sind.
Gino Chiellino
LA MADONNA DI TINDARI ALLA ROGNETTA
II. Nigra sum et formosa
Nigra sum et formosa, figlie di Rosarno,
io che divido anni di non vita
con un raccoglitore di arance
in una terra sempre verde.
Il verde sale dalla costa
alle serre più alte di Brunone,
venuto da Colonia alla ricerca
di un dio fatto di silenzio e di cielo blu,
mi scrive.
E la notte, guardando insieme la stella più chiara,
il mio raccoglitore di arance
mi dice di occhi che parlano e di labbra mute,
ma io, nella sua voce, ascolto quello che mi tace.
Sono gli anni di non vita,
che si nutrono di silenzio e di cielo blu.
Disumana è la forza per riportare vita negli anni.
V. Chiuso in giorni di attesa
Sono io a parlarti di questo mare,
che ci unisce e divide da sempre,
perché altri te ne parleranno senza di me.
A vederlo immobile nel suo blu innocente,
dopo notti di sabbia e di morti insepolti,
mi si è aperto l'animo ad un unico grido
senza eco, tanta é la sua vastità.
Chiuso in giorni di attesa, alla fine
consegnerò il mio corpo alla perfidia di Caronte
perché mi sia data vita, lì dove non sono nato.
VI. Viste dal mare
A chi cerca vita,
viste dal mare, le montagne verdi e le coste basse
promettono accoglienza e riscatto.
Non mentono spiagge e montagne
abitate da gente che ha vissuto
il viaggio della morte.
Terra di passaggio: oggi l’hotel Calabria
è invaso dalla perfidia
di Caronte, che loro sfidano, sapendo
che non ci sarà nessuno
a piangere chi annega
mentre sente in se più forte la vita.

Bd. 7
Gino Chiellino
WEIL ROSA DIE WEBERIN ...
Ausgewählte Gedichte
1977-1991
MEIN FREMDER ALLTAG
1977-1983
MIR GELINGT ES
wie einfach von dir zu singen
von dem Weiß deiner Birken
von dem Rot in der Heide
die ich zum ersten Mal bei dir sah
von der Arbeit zu reden wie
befreiend von der Luft deiner Berge
im Dunst der Kneipen zu erzählen
wie süß von Dir zu singen
von deinen grünen Augen
von deiner weißen Haut
von dem Rotschimmer in deinem
Schamhaar geil zu flüstern von
den Rechten
die uns vorenthalten werden
GETTO
Ein Getto
aus alten Häusern
und Baracken
mit Mauer und Stacheldraht
wurde nicht ausreichen
nicht einmal aus Paragraphen
ein Getto muss
durch den Kopf gehen
es sind
offene Wände
die uns einmauern
SEHNSUCHT NACH SPRACHE
1983–1985
KNOTEN ODER DIE HEIMAT
HEISST BABYLON
In der Harmonie
warte ich auf Antonutti:
der Padre Padrone spiel
El Sur, den Suden
beide sind meinen Wunschen
vertraut.
Allegra kommt ins Kino
ich kenne sie
ich begrüße sie nicht, ihre
Gegenwart tut mir gut.
Knoten werden zu einem Netz
über das Land gespannt
wird das Netz zu Heimat
mal in Hamburg, mal in Frankfurt
in Augsburg auch
mal liege ich darauf
mal hange ich daran
mal fangt es mich weich auf
an einem fallenden Tag.
El Sur mit Antonutti auf
spanisch und Allegra spricht
deutsch mit ihrem Begleiter
zwei Algerier hinter mir
höre ich den Film auf franzosisch
genießen.
DIE FREMDE, HERR RICHTER
Die Fremde, Herr Richter
bleibt eine Zeit ohne Raum
zum dritten Mal fand
der Kampf nicht statt
die gefräßige Ferne
süßer als die Jugend meiner Mutter
verführerischer als die Bilder
in den stillen Gedanken
meines Grosvaters nach der Rückkehr
war nicht das Ungeheuer
mit Zahnen aus Feuer
der Brust aus Gold
mit gespreizten prallen
Oberschenkeln und ohne Augen
ein schäbiger Alltag trat ein
voller Erwartung und Erpressung
ich legte mir einen Weg
vor die Füße
gab den Gedanken ein Ziel:
die Fremde durch den Alltag
zwingen
unbesiegt die Rückkehr
vorbereiten
SICH DIE FREMDE NEHMEN
1986–1991
BESUCH TRIFFT EIN
im Jahre 20 meiner Fremde
erhalt das Leben die Stimme
Besuch trifft ein
die Sprache wird in die Mitte gestellt
das Gespräch hat einen Anfang
7
in den 20 Jahren meiner Fremde
trank ich Wasser aus dem Elbrus
und am Fuji-Berg
doch in Mashiko
entfernte die Töpferin einen Tonsplitter
aus der grauen Schale
mit leichtem Handgriff und mir vertraut
wie die Hand der Weberin Rosa
beim Glätten der Kettfäden vor dem Einwurf
des Schiffchens
STADTBILDER
Tokyo, September 1990
SCHREINBESUCH
Der Rauch um mich
getragen von fremden Lauten
zwei mal die klingenden Hände
bei gesenkter Stirne
Gott aus dem Schlaf zu wecken
kostet keine größere Muhe
ABSCHIED
Auf den Weg in die Fremde
verlasse ich die Stadt
mit den gewagten Schatten
Nichts nehme ich mit
Nur der Schlaf aus der U-Bahn
und das singende Lächeln aus
den Kaufhäusern an der Ginza
werden mich als Geschenk aus
dem Land der Götter begleiten.
Gino Chiellino
SICH DIE FREMDE
NEHMEN
Gedichte 1986-1990
Gegen meine Fremde hat die Nachbarin
den Hof mit Chrysanthemen verändert
das unsagbare Gelb der Sterne
der Einbildung
man könne dem anderen den Weg weisen
zwischen Rapsfeldern und der Kindheit
sich die Fremde nehmen
weil der gelbe Wucher
keine Blume des Todes ist
Ich schreibe kein Deutsch
meine Sprache gehorcht euch nicht
sie denkt mich nach vorne
ohne Kindheit fällt es ihr leicht
mich näher zu bringen
und dort sich die Fremde nehmen
eine Sinopia des Lebens ist
aus Wünschen und Farben
in rauen und in milden Jahren
aus Wille und Zeichen
auf Sand- und Steinboden
über das ganze Land
aus uns entstanden
einige nahmen sich das Leben
keiner trat allein auf um
sich die Fremde zu nehmen
das Bild liegt noch vor uns
die Entscheidung ist nicht mehr
Sich die Fremde nehmen
weil Rosa die Weberin
mit sieben Jahren und mit vierzig noch
in einem Lagerraum mit dem Rücken zum Licht
keinen Zweifel an der Harmonie
ihrer Entscheidungen am Webstuhl
aufkommen ließ
als das Schiff mit dem Bräutigam
nach Argentinien aufbrach
brach sie ihr Schweigen nicht
aus der Stille ihrer Schmerzen
wuchsen die Leichentücher für meine Fremde
Gino Chiellino
SEHNSUCHT
NACH
SPRACHE
Gedichte
Meine Fremde
Meine Fremde ist ein Ort
sie liegt Nord, Nord-West von mir
sie heißt Deutschland.
Meine Fremde ist eine Zeit
sie geht durch mich hindurch
und wird zu Geschichte dort,
wo Erzählungen aus dem Leben
von Webern und Teppichknüpfern
sich zu Arabesken schlingen,
wo selbst die Schatten zu Farben werden,
dort ist meine Fremde.
für Altun
Wird der Stein eines Tages uns gehören?
Und wie groß mag der Stein gewesen sein?
Sanft erfüllte er deinen falschen Wunsch
gegen den Willen der Mörder
nahm dein Leben in sich auf.
Wird der Stein eines Tages uns gehören?
Und wie lang soll er unbedacht, anonym
in einem Polizeihof betreten werden,
bevor die Wurzeln karger Blumen
ihn in fruchtbare Erde verwandeln?
Das wohltemperierte Haus
für G. L.
Wenn das Land dem Wind gehört
setze Eukalypten um dein Haus herum.
Sie brechen den Wind, nehmen die ersten Boten des Frühlings auf,
spenden Schatten, wenn die Sonne den Löwen zu Gast hat,
und Farbstreifen, wenn die Vögel hoch über das Meer südwärts fliegen.
Vergiss nicht für kühle Räume zu sorgen,
wenn das Land der Sonne gehört.
Kalkweiß die Steinmauern, frische Dunkelheit innen,
spärlich die Möbelstücke an den Wänden
mit dem kinderhohen farbigen Sockel,
von der Decke hängend sammelt der Klebstreifen die Fliegen ein.
In der Fremde soll das Haus atmen können
der Boden aus Stein, aus Ziegel das Mauerwerk.
Gehe sparsam mit Farben um,
sie sättigen das Auge, beschweren die Atemwege.
Verkleistere die Wände nicht mit modischen Tapeten,
mache dir aus ihnen keine Nische
für ungeborene Gedanken
Das Haus steht in der Fremde:
es darf abgetragen werden.
In dem Land meiner Kinder
In dem Land meiner Kinder
werde ich keine Wurzeln schlagen.
Ich gehöre der Fremde
sie ist aus Gedanken.
Die hängengebliebene Erde
schützt meine Luftwurzeln
vorm Verdorren und warum nicht
sich in den Wurzeln der Kinder verfangen?
Gino Chiellino
MEIN FREMDER
ALLTAG
1977-1979
Es Liebe
Sie hatten sich in einer Kneipe
kennengelernt
er sprach ein singendes Deutsch
sie war freier als er wagte
beide fanden es toll
später nannten sie es Liebe
taten viel zusammen
als es zu Ende war
ahnten sie nicht daß
ihre Liebe
ein wenig Exotik gegen
ein bisschen Integration
gewesen war
Bahnhof
I.
In der Anonymität der Bahnhöfe
wo das Warten für uns ein Zuhause ist
sprechen wir mit jedem
wie auf dem Platz eines Dorfes
II.
Ich sitze
mit meiner schwarzen Mütze
auf dem Bahnhof
und lausche der Sprache der Züge
Verstummung
für Paul Celan
Meine Sprache
grenzt mich ab
ich habe sie aufgegeben
mit deiner
verfaulen mir
die Gefühle im Bauch
1980-1983
Entfremdet
vom rechten Auge
über den Mund
geht ein Riß
messerscharf
durch meine Gedanken
im Spiegel
suche ich vergebens
nach ihm
tief in mir
tief in mir
eine Sehnsucht
ohne Wunsche
Integration - ein Gedanke in sieben Thesen
These Nr. 2 - Zur Lage der Stille
Für Giuseppe Fiorenza, der schrieb: „Die Freizeit unterteile ich
in drei Etappen: Ostern, August, Weihnachten, zusammen
neun Wochen. Der Rest ist nur Arbeit.“
Als ob wir nie angekommen wären
in diesem Land, in dem wir seit
25 Jahren unsichtbar schweigen
das Leben haben wir in einen Zug
umgewandelt der Sehnsucht verboten
die Schienen zu verlassen
Die Reise hält an sie ist
April, August, Dezember
ein Teil davon ist Leben
auf dem Alltag der Bahnhöfe
wo längst niemand mehr erwünscht ist
unter fremdem Himmel
ist die Schärfe des Denkens gefährdet
mühsam ist es die Ablehnung
mit Gedanken in der Fremde zu bekämpfen
Eine Ankunft war nicht vorgesehen
in dem alten neuen Fahrplan
das Land hat seine Bahnhöfe
verraten: die Reise hält an
Bd. 2
Gino Chiellino
ICH IN DRESDEN
Eine Poetikdozentur
Dresdner
Chamisso-Poetikvorlesung
2001
mit einem Nachwort
von Walter Schmitz
sowie einer Bibliographie
EIN VORWORT IN ZWEI SÄTZEN
In Adornos Minima Moralia gibt es einen Satz, den ich seit 20 Jahren in mir trage. In den letzten Jahren kommt mir dieser Satz immer näher, fast zu nah und ich fühle mich durch ihn so bedrängt, als ob ich vor der Entscheidung meines Lebens stehen würde. Der Satz lautet: “Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.” Auf mich bezogen bedeutet Adornos bittere Feststellung: Ist die Entscheidung für die deutsche Sprache als Mittel meiner literarischen Kreativität falsch gewesen, dann habe ich seit 1973 kein richtiges Leben mehr geführt. Im Jahre 1973 habe ich meine ersten deutschsprachigen Gedichte verfaßt. Dies ist das Risiko, das jeder auf sich nimmt, wenn er sich für eine andere Sprache als die Sprache seiner kulturellen Zugehörigkeit entscheidet. Die Verführung für einen solchen Schritt ist groß. Sie geht aus der anderen, aus der neuen Sprache heraus und sie wird durch den Wunsch unterstützt, sich aus dem eigenen Konflikt mit der ersten Sprache freizusprechen. Bei einer derartigen Verführung bewegt man sich zwischen dem unerkannten Wunsch, die Konflikte, die sich in der ersten Sprache niedergesetzt haben, hinter sich zu lassen, und der Vorstellung, durch eine neue Sprache zu einer neuen, d.h. konfliktfreien Identität zu gelangen.
Aber der Satz von Adorno - “Es gibt kein richtiges Leben im Falschen” - ist da und er ist sehr wahrhaft. Diese Poetik werde ich dazu verwenden, eine Klärung in meiner Sache herbeizuführen und ich hoffe, daß sich am Ende Adornos Satz gnädig erweist.
Die Vorträge, die ich halten werde, geben mir die Möglichkeit über folgende Kernbereiche meines Werdegangs als deutschsprachiger Lyriker zu berichten:
Wieviel Autobiographie verträgt ein Gedicht?
Landschaften
Interkulturelle Authentizität
Der Dichter als Weber
Verrat und Loyalität
Auf der Suche nach einem Motto für die Poetik habe ich mich für den befreienden Ausruf: “Ich in Dresden!” entschieden. Damit kehre ich zu Goethes erfüllter Sehnsucht zurück. “Ich auch in Arkadien!” lautet das Motto für seine Italienische Reise. Ich greife es auf, weil Arkadien und Fremde sich entsprechen und weil Goethe in seiner Italienische Reise den Weg zeigt, den ein Dichter gehen muß, um Arkadien, d.h. Dresden zu erreichen: “Man muß schreiben wie man lebt, erst um seiner selbst willen, und dann existiert man auch für verwandte Wesen.” (Italienische Reise. Albano, den 5. Oktober 1787)
Bd. 3
Gino Chiellino
IN SPRACHEN
LEBEN
Meine Ankunft
in der deutschen Sprache
VORWORT
Es sind drei die Sprachen, in denen ich zur Zeit lebe. Die erste ist die Sprache der Bauern und der Handwerker aus dem Silagerbige in Calabria (Italien), in der ich 1946 geboren worden bin. In ihr habe ich die ersten 13 Jahre meines Lebens gelebt, durch sie habe ich mich als Mensch erfahren, durch sie habe ich mir syntaktische Sensibilität erworben. Während des Schuljahres 1959/60 bin ich aus ihr ausgetreten und ich habe, in einem Internat fern von der ersten Sprache, das Italienische als zweite Sprache in meinen Leben aufgenommen. Der Sprachwechsel verlief fast unbemerkt. Im Internat lebten Schüler aus jedem Teil Italiens und wir waren auf das Italienisch als gemeinsame Sprache angewiesen. In den darauffolgenden Jahren ist das Italienische ein Teil von mir geworden. In dieser zweiten Sprache habe ich mir eine Berufsidentität gegeben, indem ich das Studium der Italianistik und der Soziologie an der Università la Sapienza in Rom absolviert habe. Auf Italienisch habe ich meine Abschlussarbeit über die soziale und wirtschaftliche Lage italienischer Arbeiter in einem Metallbetrieb in Deutschland, im Jahre 1969 verfasst. Diese Abschlussarbeit wird eine der ersten wissenschaftlichen Untersuchungen über die Einwanderung in Deutschland gewesen sein.
Als ich in den Jahren 1974/75 anfing Prosa und Gedichte zu schreiben, ich wohnte damals seit vier Jahren in Deutschland, habe mich, wie zuvor, für die Sprache entschieden, in der ich lebte. Heute, nach dreißig Jahre, kann ich feststellen, dass ich Dichter und Essayist in meiner dritten Sprache geworden bin.
In vorliegender Sammlung finden sich Prosastücke, kurze Essays und Gedichte von mir (und auf mich), die meine Ankunft in die deutsche Sprache ermöglicht habe. Ich habe sie zusammengetragen, weil ich Ludwig Wittgensteins Feststellung: „In der Sprache wird alles ausgetragen“ schon immer in mir gespürt hat und weil bei Vladimir Nabokov’s zu lesen ist, dass „der beste Teil einer Schriftstellerbiographie nicht die Aufzeichnung seine Lebensabenteuer [ist], sondern die Geschichte seines Stils“; oder die Geschichte seiner Sprachen ließe es sich heute anmerken. In einer Zeit, in der es immer mehr selbstverständlich wird, in Sprachen zu leben, möchte ich einen zweiten Einblick in meine „Sehnsucht nach Sprache“ den Lesern anbieten, die vielleicht die gleiche Sehnsucht bei sich spüren.
****
Im Sommer 2001 fand die zweite Chamisso-Poetikdozentur in Dresden statt. Gino Chiellino war dazu eingeladen worden. Inzwischen liegt der Band „Ich in Dresden - eine Poetikdozentur“ bei Thelem vor. Bei der Arbeit an diesem Band hat Chiellino seine Essays, die Positionsbestimmungen und auch die Polemiken, mit denen er von Beginn an die Entstehung einer deutschsprachigen Literatur von Migranten und das Leben der Minderheiten in Deutschland begleitet hat, neu gesichtet. Sie dokumentieren Stationen der Biographie eines europäischen Intellektuellen in Deutschland. Diese Arbeiten, von denen viele bisher nur schwer zugänglich waren, werden deshalb hier gesammelt. Der vorliegende ergänzt die Poetikdozentur, aber bildet auch das Gegenstück zur Poetikdozentur; er präsentiert Chiellino in seiner Rolle des kritischen Intellektuellen in der deutschen Öffentlichkeit.
Bd. 14
ALS DICHTER
IN DEUTSCHLAND
SCRIVERE POESIA IN
GERMANIA
Herausgegeben von Gino Chiellino
VORWORT
Zum Ziel der vorliegenden Anthologie
Die vorliegende Anthologie hat sich zum Ziel gesetzt, die neuesten Entwicklungen der interkulturellen Lyrik in Deutschland zu dokumentieren, und zwar gerade der auf italienisch und/oder auf deutsch verfaßten Lyrik von Autoren, die im Kontext italienisch-deutscher Zugehörigkeit wirken.
Die Anthologie konnte nicht anders als zweisprachig sein, aber unter Berücksichtigung einiger ungewöhnlicher Varianten von Zweisprachigkeit, welche von Menschen ausgeübt werden, die ihre Kreativität als tiefen Dialog zwischen den zwei oder drei Sprachen leben, in denen sich ihr Alltag abspielt.
Dennoch wird der Leser darin dem äußeren Anschein nach »nur« auf italienisch geschriebene Gedichte finden, wie diejenigen von Cristina Alziati, von Marcella Continanza und von Piero Salabè; oder dem äußeren Anschein nach »nur« auf deutsch geschriebene, wie diejenigen von Erica Natale. Er wird darin Gedichte auf italienisch mit vorangestellter deutscher Übersetzung finden, wie diejenigen von Giuseppe Giambusso und Salvatore A. Sanna.
PREFAZIONE
Scopo della presente antologia
Scopo della presente antologia è quello di documentare gli ultimi sviluppi della poesia interculturale in Germania, più propriamente di quella scritta in italiano o/e in tedesco da autori che operano in un contesto di appartenenza italo-tedesca.
L'antologia non poteva essere che bilingue, ma tenendo conto di alcune varianti insolite di bilinguismo, che sono praticate da chi vive la sua creatività come dialogo profondo tra le due o tre lingue in cui si svolge la sua quotidianità.
Pertanto il lettore vi troverà poesie apparentemente »solo« in lingua italiana come quelle di Cristina Alziati, di Marcella Continanza e di Pietro Salabè; o apparentemente »solo« in tedesco come quelle di Erica Natale.
Vi troverà poesie in italiano con traduzione tedesca a fronte come nel caso di Giuseppe Giambuso e di Salvatore A. Sanna.
Vi troverà inoltre poesie in duplice versione ma opera dello stesso autore, come quelle di Franco Biondi e di Franco Sepe.
Darüber hinaus wird er darin Gedichte in zweifacher Version, aber als Werk desselben Autors finden, wie diejenigen von Franco Biondi und Franco Sepe. Und er wird darin zwei-/dreisprachige Beiträge finden mit einigen Gedichten auf deutsch und anderen auf italienisch, venetisch oder kalabrisch, wie im Fall von Fruttuoso Piccolo oder Gino Chiellino.
Alle Autoren haben die Gelegenheit erhalten, ihre jüngsten Texte zu präsentieren, nach ihrer Wahl und ihrem Vergnügen. Man zollte den ausgewählten Texten uneingeschränkten Respekt und ließ ein ungewöhnliches Bild der möglichen Varianten entstehen, in denen sich die dialogische Beziehung zwischen der Sprache abspielt, in der die Autoren schreiben und der Sprache, in der sie zur Zeit nicht schreiben.
Den Lesern, auch sie sicherlich zweisprachig und interkulturell, ist das Vergnügen vorbehalten, den ganzen Reichtum an Themen und ästhetischen Entwürfen zu entdecken, der in der Anthologie vorhanden ist. Und ohne Zweifel wird von sich aus das Vergnügen hinzukommen, eigene Erfahrungen noch einmal zu durchleben, indem man die dialogische Beziehung der zwei Sprachen im Inneren eines jeden Gedichts entdeckt.
E vi troverà contributi bi/trilingui con alcune poesie in tedesco ed altre in italiano, veneto o calabrese, come nel caso di Fruttuoso Piccolo e di Gino Chiellino.
Ogni autore ha avuto l'opportunità di presentare le sue novità, a sua scelta e piacere. Rispettando in pieno le loro scelte è stato realizzato un quadro insolito delle possibili varianti del rapporto dialogico tra la lingua che si scrive e quella che in quel momento non si scrive.
Ai lettori, anche loro certamente bilingui ed interculturali, è riservato il piacere di scoprire tutta la ricchezza dei temi e delle proposte estetiche presenti nell'antologia. E senz'altro si aggiungerà da se il piacere di rivivere esperienze proprie scoprendo il rapporto dialogico delle due lingue all'interno d'ogni poesia.
Bd. 4
ES GAB EINMAL
DIE ALPEN
Anthologie
Herausgegeben von
Gino Chiellino
In dieser zweisprachigen Anthologie wird zum ersten Mal die historische und aktuelle Breite der Literatur italienischer Autor/Innen in Deutschland vorgestellt. In ihren Erzählungen, Romanen und ihrer Lyrik führen die Autor/Innen die Sprachen und die literarischen Traditionen beider Kulturen auf immer wieder verblüffender Weise zusammen. Nie zuvor ist eine solche intensive Nähe, ja eine Verschmelzung von Sprachen und Kulturgedächtnissen zwischen Italien und Deutschland erreicht worden.
Aus dem VORWORT
... Und trotzdem kündigt sich eine Zeit an, in der die Alpen, die innerhalb Europas fast keine geopolitische Grenze mehr darstellen, zum Epizentrum einer sich bildenden europäischen Region werden können. Dann gäbe es die Alpen als trennende Bergkette in der Tat nicht mehr. Sie blieben erhalten, jedoch als sichtbare Anziehungskraft, als eines der hervorragenden Symbole der gemeinsamen Zukunft der Europäer, genauso bedeutungsvoll wie das Mittelmeer oder das Baltikum. Es drängt sich sogar auf, in den Alpen ein abendländisches Babylon zu erkennen, vorausgesetzt, dass Babylon als Sprachenreichtum verstanden und nicht weiterhin als Sprachverwirrung diffamiert wird.
Auf diesem Weg befinden sich die italienischen Autoren in der Bundesrepublik. Sie sind nicht die Einzigen, die den Weg zu Babylon gefunden haben, aber im betreffenden Kontext leisten sie Wesentliches. Zu ihnen gehören Dichter, Erzähler und Romanciers wie: Franco Biondi, Gino Chiellino, Marcella Continanza, Chiara de Manzini, Cesare De Marchi, Silvia Di Natale, Marisa Fenoglio, Lisa Mazzi, Fruttuoso Piccolo, Luigi Rossi, Piero Salabè, Salvatore A. Sanna und Franco Sepe.
Die vorliegende Anthologie hat sich als Ziel gesetzt, durch eine umfangreiche Auswahl der Beiträge die ästhetischen Strategien und die thematische Vielfalt herauszustellen, mit denen sie sich für ihr Vorhaben ausgerüstet haben.
Als erstes hat sich die Mehrheit der vorgestellten Autoren von der monokulturellen Treue zur Sprache ihrer Herkunft losgesagt. Durch ihre Entscheidung, sich nicht auf eine prioritäre Sprache festzulegen, leben sie die gleichzeitige Zugehörigkeit zu zwei Sprachen, zu zwei europäischen Regionen kreativ vor, so wie sie es in ihrem Alltag tun müssen. In ihren Erzählungen, Romanen und Gedichten führen sie die Sprachen und die literarischen Traditionen aus zwei Sprachräumen auf immer wieder verblüffende Weise zusammen. Nie zuvor ist eine solch intensive Nähe, ja eine Symbiose von Sprachen und Kulturgedächtnissen zwischen Italien und Deutschland erreicht worden.
Um diese Intensität erreichen zu können, haben sie den monokulturellen Pakt zwischen Autor und Leser gekündigt, wonach sich Autor und Leser in einer gemeinsamen Muttersprache treffen und verständigen können. Unabhängig davon, ob die betreffenden Autoren in der Muttersprache oder in deutscher Sprache schreiben, sie alle haben in ihren Werken den monokulturellen Leser abgeschafft. An seiner Stelle haben sie einen anationalen Leser und einen den nationalen Literaturen unbekannten Gesprächspartner eingeführt. Als anationaler Leser im Werk ist jeder zu verstehen, dem die Sprache vertraut ist, in der das Werk verfasst ist.
In den italienischsprachigen Beiträgen aus den Romanen von Cesare De Marchi La vita di Abel (2004), von Silvia Di Natale Il giardino del luppolo (2004) oder von Marisa Fenoglio Casa Fenoglio (1995) und Vivere altrove (1998) ist der Leser jeder, der Italienisch lesen kann. Als Gesprächspartner schimmert jedoch jemand durch, der sich in der Kulturgeschichte des deutschen Sprachraums bestens auskennt, in dem die Ereignisse der Romane stattfinden. In der Tat ist nur dieser Jemand in der Lage, die interkulturelle Komplexität der italienischen Sprache dieser Romane zu erschließen.
Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass die grundlegende Gemeinsamkeit der vorgestellten Autoren im kreativen Umgang mit ihren Sprachen und im dialogischen Einsatz ihres historisch-kulturellen Gedächtnisses liegt. Und dies geschieht im Kontext einer europäischen, interkulturellen Literatur, in der die Alpen als Babylon im Morgenland und nicht als trennende Bergkette zwischen Norden und Süden zu gelten haben.
Augsburg, Januar 2004
AKZENTE
Zeitschrift für Literatur
Herausgegeben von Michael Krüger
Begründet von Walter Höllerer und Hans Bender
52. Jahrgang • Heft 5 • Oktober 2005
Gino Chiellino
Lieder für einen Buchstaben
11
Noch ein Ring
und sei gewarnt
Er bindet dich an deine Schönheit
und soll doch
deine Hände
mit einem Bruch
schmücken
deine Schönheit
ein wenig für mich
gewinnen
12
Deine Schönheit
sind
die Jahre die uns trennen
dein leichter Gang
durch meine Gedanken
Sie könnte das Salz
in meinem Blut sein
Ich schaue dich
von der Seite an
bleibe
hinter deinem letzten Schritt
zurück
Wer kann
den Anblick der Sehnsucht
ohne Stimme
ertragen?